Gastbeitrag von Werner Heinrich
Traurig, traurig.
Gerd Müller (Jahrgang 1945) habe ich (Jahrgang 1944) bei verschiedenen Gelegenheiten öfters als Mensch aus allernächster Nähe persönlich erleben dürfen und ab 1969 als Zuschauer im Stadion vor Ort bei verschiedenen Länderspielen der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft, so bei allen sieben Begegnungen der WM 1974, und bei Spielen des FC Bayern live und leibhaftig als Fußballspieler in Aktion gesehen.
Ich hatte zudem das riesige Glück, mich mit ihm im März 1985 , als er mit seiner treu für ihn sorgenden Ehefrau Uschi einige Tage Urlaub bei seinem Freund Werner N. in Nehren bei Reutlingen verbrachte, in einem längeren, sehr persönlichen Gespräch in gemütlicher Atmosphäre im Vereinsheim des SV Nehren als einen liebenswürdigen, authentischen, verletzlichen, hochanständigen, eher scheuen, ernsthaften und verlässlichen Menschen praktisch bald eine Stunde lang quasi vertraut unter vier Augen unterhalten zu dürfen. Dabei ließ mich Gerd Müller offen und ungeschützt in seine Gedanken und Gefühle, ohne Argwohn und voller Vertrauen, hineinschauen.
Er, der es regelmäßig eher unwirsch ablehnte, wenn ihn Autogrammjäger nicht nur um seinen Namenszug, sondern zusätzlich um eine kurze, persönliche Widmung baten, schickte mir, wie in diesem Gespräch versprochen, schon am übernächsten Tag eine Postkarte mit handgeschriebenem, persönlichem Text zur Erinnerung an unser vertrautes Gespräch zu. Bei öffentlichen Auftritten und Interviews spürte man häufig, dass er unsicher, gehemmt und kurz angebunden war und sich unwohl fühlte.
Im Gespräch mit mir war er das glatte Gegenteil. Er war privat, ganz offen und ohne Scheu, ließ mich an seinem Innenleben teilhaben und vertraute mir als einem fremden Menschen. Dieses Zutrauen zu mir folgte wohl aus meinen Erzählungen und Details meiner Worte zu ihm und über ihn. Mit positiver Verwunderung bemerkte er, und schaute mich nicht nur einmal beinahe ungläubig an und nickte zustimmend, wenn ich als mitfühlender und engagierter Fußballfan ihm, dem leibhaftigen Bomber der Nation, Gerd Müller, zu verschiedenen Spielen und Toren von ihm, die ich jeweils im Stadion miterleben durfte, genau und im Detail erzählte, wie er ein bestimmtes Tor im einzelnen bewerkstelligte und was in ihm, nach meinem Empfinden und Eindruck , in diesem jeweiligen Augenblick innerlich dabei gerade ablief. Mehrfach räumte er ein und bestätigte die Richtigkeit meiner Deutung, dass er in dem jeweils besprochenen Moment genau so, wie ich es ihm erzählte, gefühlt und gedacht habe.
Als ich ihm beispielsweise berichtete, dass er meines Wissens nur einmal in einem großen Spiel, nämlich im Halbfinale-Hinspiel in München im Mai 1976 im Europacup der Landesmeister gegen Real Madrid, damals mit den deutschen Stars Günter Netzer und Paul Breitner, ein Tor mit einem Schuss von außerhalb des Strafraumes , und auch noch mit dem linken Fuß, erzielte, und ihm der Ball, der dann nach etwa einer Viertelstunde Spielzeit unhaltbar oben links im Torwinkel der Spanier zum 1:0 für die Bayern einschlug, nach meinem Eindruck vor Ort im Stadion eher ungewollt über den Außenspann abgerutscht war, staunte er für einige Sekunden geradezu fassungslos über meine Erinnerung und die Ausdeutung dieser Spielszene, und bestätigte meine Worte , beinahe mit ungläubiger Verwunderung, und sagte zu mir, dass es sich damals ganz genau so zugetragen habe.
Wir haben noch über weitere ganz konkrete Tore und Aktionen von ihm gesprochen. Meine exakten Beschreibungen, die offensichtlich von ihm als zutreffend empfunden wurden, öffneten mir den beispiellosen Zugang zum Herzen und Fühlen des Menschen Gerd Müller. Dadurch fühlte er sich wohl und verstanden und angstfrei, und vertraute mir, und hatte keine Befürchtung, dass ihn da nur mal wieder einer aushorchen wollte. Gerd spürte intuitiv, dass ich mich mit ihm über die Jahre seit 1964, als er sich in seiner ersten Saison bei den Bayern überhaupt die ganze Runde über ein Kopf-an-Kopf –Rennen um die Meisterschaft in der Regionalliga Süd mit meinem Heimatverein SSV Reutlingen geliefert hatte, innerlich und mit Respekt und Zuneigung beschäftigte, und ihn verstand, und vor allem ihm nichts Böses wollte.
Es ist tragisch und macht mich traurig, dass dieser liebe Mensch, der morgen am 3. November 2020 75 Jahre alt wird und eine gesamte Nation mit seinen unglaublich vielen Toren über Jahre hinweg immer wieder in kollektive Freudentaumel versetzte, so ein unwürdiges und total unverdientes Ende hinnehmen muss.
Mein Mitgefühl gilt seiner Uschi, auf die er sich sein Leben lang stützte und verlassen konnte. Unvergesslich bleibt mir hierzu ein persönliches Erlebnis, als Gerd Müller in einem Möbelgeschäft in Mössingen eine Autogrammstunde gab. Dabei konnte ich seinen Freund Werner N. kennenlernen und mit diesem privat ein paar Worte über den Menschen Gerd Müller sprechen. Bei dieser Gelegenheit konnte ich miterleben, wie ängstlich und scheu der große Fußball-Star, als den er sich selbst nie sah, in seinem Inneren war, und wie sehr er der Nähe seiner ihn immer großartig unterstützenden Frau bedurfte. Von unzähligen Autogrammjägern umringt unterbrach der umjubelte Gerd mitten in der Autogrammstunde die Schreiberei, die er nie mochte, und rief seine Uschi an, die sich damals nur wenige Meter entfernt im Hause N. aufhielt, und erzählte ihr über seine Erlebnisse und Gefühle bei diesem Auftritt, wo er mal wieder, was gar nicht sein Ding war, im Mittelpunkt des Interesses stand. Gerd war heilfroh, als er die Autogramme-Schreiberei endlich hinter sich hatte. Werner N. bestätigte mir, dass Gerd Müller nur höchst ungern ohne seine geliebte Uschi unterwegs war.
Das habe ich zum 75. Geburtstag von Gerd Müller am 03. November 2020 geschrieben, nachdem Uschi Müller in einem Zeitungsinterview berichtet hatte, dass ihr Mann seinem Ende entgegenschlafe.
Nachdem der liebe Gerd Müller nun am 15. 08.2021 gestorben ist, möchte ich seiner Frau mein herzliches Beileid und meine menschliche Anerkennung und Hochachtung für die jahrzehntelange liebevolle Unterstützung ihres Gerd aussprechen.
Bei Gerd selbst möchte ich mich nochmals für seine unvergesslichen Leistungen im Fußball und seine stets menschliche Größe, und ganz besonders für sein uneingeschränktes Zutrauen bei unserer Unterhaltung in Nehren, bedanken. Wir sind über Deinen Tod sehr traurig, lieber Gerd. Ruhe in Frieden. Der liebe Gott möge Dich liebevoll aufnehmen.
Eine sehr schöne Geschichte. Die Art und Weise, wie sie geschrieben ist, gab mir das Gefühl, neben den beiden Herren zu sein, wenn sie sich unterhielten.
Hut ab vor Werner und vor dir auch, Peter! Wenn du die Geschichte hier nicht veröffentlicht hättest, hätte ich es nirgendwo lesen können.
Und natürlich: 4EVERGERD!
Eine wunderschöne Geschichte … die musste man hier bringen … und vielleicht (nein sicher) kommt von Werner noch mehr 😉