Kommentar von Petersgradmesser
Fußball ist extrem emotional, er ist zum Lachen und zum Weinen, Fanreaktionen auch. Die aktuelle Weltmeisterschaft liefert – gerade aus deutscher Sicht – die perfekten Beispiele dafür. Wie sich Wut in Euphorie wandeln kann, wieder zurück, Schadenfreude – und manchmal alles sogar ohne eigenes Zutun. Nach Deutschland ist nun auch Spanien mit Schimpf und Schande aus dem Turnier ausgeschieden. Und damit ausgerechnet die beiden Mannschaften, die sich nach 56 von 64 WM-Spielen das wohl technisch beste viel bejubelte WM-Spiel geliefert haben.
Das Gruppenspiel am 2. Spieltag der WM in Katar zwischen Deutschland und Spanien war ein hochklassiges spannendes Fußballspiel zwischen zwei Teams, die sich auf Augenhöhe trafen und bis zum Schlusspfiff gewinnen wollten, die Deutschen noch ein bisschen mehr als die Spanier. Die Partie wäre mindestens ein würdiges WM-Viertelfinale gewesen. Weltweit gab es anschließend Lob, Anerkennung, Respekt für die Leistungen beider Teams. Beide galten danach als Mitfavoriten auf den Titel, bei den Deutschen mit der kleinen Einschränkung ihrer Spanien-Abhängigkeit vor dem abschließenden Gruppenspiel. Aber was sollte schon nach der Leistung beider Mannschaften bei jenem 1:1 schief gehen?
Für den Autoren bleibt jenes Match vor den anstehenden Viertelfinalspielen das bisher beste der WM, auch weil die Achtelfinal-Partien insgesamt etwas enttäuschend waren. Sechs Spiele waren größtenteils extrem einseitig, zwei Spiele zwar hochdramatisch bis ins Elfmeterschießen, blieben aber doch spielerisch einiges schuldig. Brasilien war eine Halbzeit gegen Südkorea brillant, Portugal – mit einem erst sehr spät eingewechselten CR7 – eigentlich über das ganz Spiel gegen die Schweiz. Die Gegner waren in diesen Achtelfinals aber derart schwach, dass man sich schon wundern konnte, wie sie überhaupt die Gruppenphase hatten überstehen können.
Vor diesem besten WM-Spiel hätte die Ausgangssituation von Spanien und Deutschland für über 3 1/2 Tage nicht unterschiedlicher sein können: Die iberische Ballmaschine hatte beim 7:0 gegen Costa Rica brilliert und auch eine Effizienz vor dem Tor gezeigt, dass den künftigen Gegnern eigentlich nur noch Angst und Bange sein konnte. Fast jeder Schuss auf das Tor von Navas ein Treffer, nach dem Motto “wenn es läuft, dann läuft es und besser”.
Komplett anders die Gemütslage der Deutschen nach dem 1:2 gegen Japan. Nachdem man es verpasst hatte, die 1:0-Führung in eine wesentlich höhere beruhigende umzuwandeln, kassierte man in der 75. und 83. Minute zwei völlig unnötige Gegentore zum 1:2. Das waren die acht Minuten gewesen, in welchen man aus dem Turnier ausschied, obwohl man – zusammenfassend betrachtet – eigentlich die beste Mannschaft der Gruppe war. (Nein, nicht die effektivste!)
Bis zum Spiel Costa Rica gegen Japan wenige Stunden vor dem bisher besten WM-Spiel übertrafen sich die großen Witzbolde unter den Fußball-Fans mit Szenarien, unter welch blamabelsten Umständen die Deutschen – gedemütigt von Spanien – schon nach zwei Spielen nach Hause fliegen können. Teilweise konnte es schon nicht mehr weiter unter die Gürtellinie gehen. Dass aber sogar dies möglich ist, sollte sich gut eine Woche später zeigen …
Zur Überraschung aller schlug dann Costa Rica die nach dem Deutschland-Spiel euphorisierten Japaner, für welche nach dem Spiel die Welt unterzugehen und die WM zu Ende zu gehen schien. Und unter den wahren deutschen Fans kam wieder Hoffnung bis hin zu Euphorie auf. Selbst mit einer Niederlage gegen die überragenden Spanier, also mit zwei Niederlagen zum WM-Start(!), konnte man sich noch realistische Chancen ausrechnen, ins Achtelfinale zu kommen. Das war übrigens der Weg der viel umjubelten Dänen bei der EURO 2020/21 gewesen, welcher dann “unglücklich” erst im Halbfinale gegen England geendet hatte.
Dann das viel gelobte 1:1, welches Deutschland in der Schlussphase durchaus noch in ein 2:1 hätte wandeln können. Von zwei bärenstarken Teams war Deutschland sogar das um einen Hauch bessere. Die Fußballwelt zeigte wieder Respekt vor der deutschen Turniermannschaft. Wirklich. Ein Sieg mit zwei Toren Unterschied im abschließenden Gruppenspiel gegen Costa Rica und für Deutschland könnte es im Turnier noch ganz weit gehen.
Zwei Tage dauerte die deutsche Fußball-WM-Euphorie an, dann nährten Gerüchte aus Spanien Zweifel, ob alles wirklich so glatt gehen würde. Will Spanien überhaupt Gruppensieger werden? Ein eigentlich läppisches Unentschieden gegen Japan würde dazu wohl genügen. Als Gruppensieger muss man dann wohl aber gegen Brasilien im Viertelfinale ran. Dass man sich vorher in einem Achtelfinale dafür qualifizieren muss, schien in diesen Überlegungen gar keine Rolle zu spielen. Spanische Medien hatten übrigens vor dem CL-Spiel des FCB in Barcelona spekuliert, dass der deutsche Rekordmeister Inter am letzten Spieltag in München gewinnen lassen würde, nur um Barca aus dem Wettbewerbs zu katapultieren. Bayern gewann in Barcelona mit 3:0 … Die “spanische Sichtweise“ auf gewisse Dinge trotzdem beängstigend …
Bekamen die spanischen Verschwörungstheorien wenige Stunden vor den abschließenden Gruppenspielen noch mehr Nährboden dadurch, dass man als Gruppensieger im Viertelfinale gegen Vize-Weltmeister Kroatien hätte antreten müssen, als Zweiter nur gegen Marokko? Alles spekulativ.
Deutschland gewann 4:2 gegen Costa Rica, Spanien verlor sensationell (!?!?) mit 1:2 gegen Japan. Die deutsche Medienlandschaft schoss sich schon vor dem Schlusspfiff des Deutschland-Spiels auf die siegreichen aber ausgeschiedenen Versager ein (das Spanienspiel war einige Minuten früher beendet). Die deutsche Fanseele machte sich mit Schimpftiraden gegen die eigene Mannschaft Luft, die Ausprägungen gingen in alle Richtungen und würden einen Buchumfang erreichen, wenn man alle aufzählen würde. Spanien kam für seinen Verrat bei vielen auch nicht besonders gut weg, aber für die Mehrheit lag die Schuld einzig und allein bei den eigenen Versagern.
Mit Niclas Füllkrug gab es wohl einen einzigen deutschen Spieler, welcher von der Kritik ausgenommen wurde (auch dazu könnte man etwas sagen, das würde aber auch den Rahmen sprengen). Selbst der 19-jährige Jamal Musiala, der wie um sein Leben gespielt hatte, wurde Opfer harscher Kritiken bis heftiger Beleidigungen. Über das Niveau der Beschimpfungen der FCB-Spieler Neuer, Kimmich, Goretzka und Müller, selbst aus den eigenen Fanreihen, schweige ich lieber.
Das spanische Verhalten wurde gefühlt von einer Mehrheit der deutschen Fans als professionell, sehr clever gesehen, …. bis Spanien gestern gegen Marokko im Elfmeterschießen ausgeschieden ist. Die ganze Zurückhaltung der gequälten deutschen Fans(eele) entlud sich anschließend in den Social Media in Minuten-, nein Sekundenschnelle in kübelweiser, tonnenweiser gnadenloser Häme. Karma war die zurückhaltendste Bezeichnung für das verdiente 😉 spanische Ausscheiden. Betrachtet man die Explosion der Gefühle der deutschen Fans nach der spanischen Niederlage, könnte man durchaus zu dem Schluss kommen, dass die Spanier eigentlich sowieso von einer gewaltigen Mehrheit für das deutsche Scheitern verantwortlich gemacht wurden. Zunächst mussten aber die eigenen Spieler büßen, bei den Spaniern lag man in Lauerstellung.
Übrigens: Wer im Viertelfinale nicht gegen Brasilien spielen möchte – wäre das Portugal vom gestrigen 6:1 gegen die Eidgenossen tatsächlich der einfachere Gegner? Alles spekulativ. Nach dem Viertelfinale kann alles schon wieder ganz anders ausschauen. Fußball eben. Der Held von heute kann morgen schon der größte Versager aller Zeiten sein. Eine tausendfach bewährte und bewiesene Fußballweisheit.
Die beiden Teams aus dem besten Spiel dieser WM sind im Viertelfinale schon nicht mehr dabei. Für die meisten Fans ist dieses Spiel fast schon vergessen. Beides Versager, “Fußball ist ein reiner Ergebnissport.” – konnte ich jedenfalls in den letzten Tagen massenhaft hören. Ich persönlich finde diese Reduktion des Fußballdramas gelinde gesagt etwas armselig. An das Spiel Spanien gegen Deutschland 2022 in Katar werde ich mich – trotz allem – immer gerne zurück erinnern. Verdammt Leroy, warum hast du nicht doch das 2:1 in letzter Minute gemacht!? 😉
Volle Zustimmung zu diesem Artikel!
wieder eine Petersgradmesser… ähh… FCBT- Sternstunde!! 🙂 100% d’accord in allem!!
Herzlichen Dank für das tolle Kompliment. Die “Redaktion” sieht mich gerade erröten 😉