Bayern verprügelt chancenlosen BVB zu Tuchel-Premiere – nicht.

Kommentar von Petersgradmesser

Bei den historischen Rückblicken über Duelle beider Vereine wurde auch dieses Mal das legendäre 11:1 vom November 1971 erwähnt. Ich erinnere mich noch an einen Fan-Kommentar, der meinte, dass so etwas heute – leider – nicht mehr möglich wäre. Auch wenn es das Endresultat von 4:2 nicht ansatzweise vermuten lässt: Gestern war es tatsächlich möglich. Beim Stand von 4:0 Mitte der zweiten Halbzeit, die Bayern hatten zu dem Zeitpunkt bereits eine Handvoll weiterer Hundertprozentiger liegengelassen, war das Thema unter den Stadionfans, dass der FCB bei voller Konzentration den BVB zweistellig abschießen könnte. Tat er eben nicht, auch wenn Reporter nach dem Spiel in Interviews erstaunlicherweise das Wort Kantersieg verwendeten.

Letztendlich war es ein typisches Bayernspiel für diese Saison. Der Trainer auf der Bank hieß zwar Thomas Tuchel, aber auf dem Platz standen immer noch die Nagelsmann-Bayern. Ein Team, welches überragenden Hochgeschwindigkeits-Angriffsfußball zelebrieren kann wie fast kein Team in der Fußballwelt. Aber auch eine Mannschaft, die nicht fähig scheint, bei hoher Überlegenheit einen Gang runter zu schalten, ohne in einen bedenklichen Fehler-Modus zu geraten. Ein sehr sehr sensibles Gebilde. Aus meiner Sicht ist hier der größte Hebel zum Ansetzen für den neuen Trainer Tuchel.

Die Bayern starteten gestern durchaus nervös, was sicherlich nicht untypisch für diese Saison ist, kamen dann aber nach dem durch BVB-Keeper Kobel stark begünstigten Führungstreffer in der 13. Minute in einen Angriffsmodus, der für schlagartig verunsicherte Dortmunder einem Hurricane gleichkam. Es war ein Klassenunterschied, wenn nicht ein Zweiklassenunterschied. Nach dem 4:0 in der 50. Minute, zu dem Zeitpunkt bereits höchstverdient, nahmen die Bayern – wohl auch angesichts des Pokal-Viertelfinales am Dienstabend gegen den Bundesliga-Tabellenvierten Freiburg – mindestens einen Gang raus. Hatten aber noch weitere riesige Torchancen, zweimal wurde noch nach wunderschönen Toren von Choupo von Gnabry kurz gejubelt, beide Treffer wurden leider wegen Abseits nicht gegeben.

Die Tore erzielten dann noch die Dortmunder. Per Foulelfmeter durch Can – in einer eher ungefährlich wirkenden Situation trifft Gnabry unkonzentriert und unglücklich leicht Bellinghams Fuß, der sich das Geschenk im Strafraum nicht nehmen lässt und zu Boden geht. Und durch ein ganz klares Abseitstor von Malen. Dabei zuckte der eindeutig im Abseits stehende Moukoko Richtung Ball, irritierte dabei Sommer deutlich sichtbar (ich saß im Stadion genau in der Verlängerung des Balles) – genauso unverständlich wie typisch für diese Saison kassierte der VAR dieses Tor nicht. Ein weiteres Armutszeugnis.

Und so kam es zu einem Endergebnis von 4:2 – dem Spielverlauf und Chancenverhältnis endsprechend wäre ein 8:1 korrekt gewesen!

Wo Thomas Tuchel die Nagelsmann-Bayern auf Vordermann bringen muss:

Der Spar-Modus funktioniert ganz offensichtlich nicht. Bei klaren Führungen bringt man sich dadurch immer wieder – scheinbar unnötig – in Schwierigkeiten. Das ist stark verbesserungsfähig oder man schaltet alternativ eben nicht runter, bringt frische Spieler und macht einfach im Angriffsmodus weiter. In den letzten vier Bundesligaspielen haben die Bayern immer aus einer – dreimal sogar klaren – Führung heraus den / die letzten Treffer kassiert. Das muss abgestellt werden!

Und wenn die Bayern nicht mehr bei der Sache sind, dann hagelt es auch Elfmeter gegen sie: Mit sieben gegnerischen Elfmetern liegen sie auf dem vorletzten Platz der Bundesligatabelle. Nur der VfL Bochum liegt mit traurigen 13 erhaltenen Elfmetern noch klar hinter dem BL-Tabellenführer. Der BVB hat übrigens als einzige BL-Mannschaft nach 26 Spieltagen noch keinen einzigen Elfmeter kassiert. Ich habe jetzt allerdings auch keine Lust auf eine hier logische und zwangsläufige abermalige Schiedsrichterdiskussion, auch nicht, obwohl die Bayern trotz der mit Abstand besten Offensive nur mickrige vier Elfmeter selbst zugesprochen bekommen haben …

Übrigens: Fast alle BL-Teams haben Spezialisten, die im gegnerischen Strafraum Fouls bei minimalen Berührungen ziehen, die Bayern nicht. Eine sportlich-faire Grundhaltung, deswegen ist dies kein Ansatzpunkt für Tuchels Offensive, für die Defensive aber auf alle Fälle.

Ziehen wir ein positives Fazit: Obwohl ein für den BVB sehr schmachvoller Kantersieg möglich gewesen wäre, schärft vielleicht das Zusammenkommen des Endergebnisses mehr die Sinne. Tuchel kennt so seine Pappenheimer gleich viel besser und hat klar erkennbare Stellschrauben. Ein über weite Teile des Spiels hochkonzentrierter FCB kann nicht nur jeden Gegner auf der Welt schlagen, sondern schlägt diesen. Ein unkonzentrierter FCB kann jedoch auch immer wieder schmerzhafte Rückschläge erleiden. Welche Version zaubert Tuchel im Saisonendspurt aus dem Hut?

10 Kommentare zu „Bayern verprügelt chancenlosen BVB zu Tuchel-Premiere – nicht.

  1. Ich bin absolut bei Dir, was die Bewertung der Mannschaft angeht. Und ja, gestern dachte ich mir auch, wow, 3:0 nach nicht mal 30 Minuten – machen wir doch bitte einfach so weiter, dann steht es nach 90 Minuten mindestens 9:0 und mein Favorit Tuchel bekommt einen Start nach Maß.

    denkste ..

    Es waren eben gestern nur die 2022/23-Bayern (den Ausdruck “Nagelsmann-Bayern” vermeide ich, warum wird gleich klar). Und das heißt, dass das oder die letzte(n) Tor(e) der Gegner schießt. War ja gestern nicht anders.

    Mit etwas mehr Pech – keine Kobel-Böcke, sondern einem Gladbach-Sommer beim Gegner -, und bei den üblichen “interessanten Regelinterpretationen” von VAR-Keller und DFL-Schiris, kommt da am Ende ein 2:2 raus (!).

    Das liegt meiner Meinung nach am undisziplinierten und falsch zusammengestellten Mittelfeld (was ich Nagelsmann nicht anlaste, aber dem Management – es gab mal eine Zeit, da hat man einem Guardiola den Weg gezeigt und einfach mal an Trainer vorbei Vidal verpflichtet). Es gibt keinen ballsicheren Achter (wie es Thiago und Toni Kroos waren), und es gibt auch keinen rein defensiven Sechser. Einen Gang runterschalten heißt bei den 2022/23er Bayern die Preisgabe der Mittelfeldkontrolle. Die, die für den Kader verantworlich sind (nicht nur Brazzo, sondern z.B. auch der stets gelobte Neppe, und natürlich auch Kahn), haben hier einen schlechten Job gemacht.

    Und welche Fachkraft hat eigenlich entschieden, Sabitzer nach ManUnited zu verleihen (!) – sprich, für diese eindeutige Schwächung und den Verlust von Variabilität ist noch nicht mal Ablöse geflossen. Nagelsmann hat ihn ja nicht mehr aufgestellt, aber Tuchel wäre vielleicht heilfroh um einen wie ihn.

    Tuchel steht jetzt vor einer Herkulesaufgabe, diesem Team in nur noch 9 Tagen beizubringen, dass in der CL manchmal der Bus geparkt werden muss. Andere Spieler bekommt man jetzt nicht, und Gravenberch ist wegen seiner Fehlpässe ein zu großes Risiko. Man muss es also mit dem vorhandenen Stamm-Personal packen. Das geht vor allem an die Adresse von Kimmich (und Goretzka). Kimmich muss jetzt mal zeigen, dass er ein echter Leader ist und für Spielkontrolle sorgen kann.

    1. @Wipf
      Ich habe mir vorgenommen, nicht mehr so böse zu dir zu sein – und deswegen fange ich jetzt nicht damit an, deinen Kommentar in vielen Teildisziplinen als totalen Quatsch zu bezeichnen.

      Ansonsten halte ich den aktuellen Kader für den vielleicht besten FCB-Kader aller Zeiten. Wegen diesem irgendjemanden zu kritisieren ist abenteuerlich, nahezu verwegen. Der Beitrag von FC Bayern Total spricht mir aus der Seele, dort müssen die Stellschrauben angezogen werden.

      PS: Du kritisierst Spieler, die weltweit von wirklichen Experten hoch geachtet werden. Ist dir das eigentlich bewusst?

      1. Einen so unausgewogenen Kader als den “besten alle Zeiten” zu bezeichnen – nein, tut mir leid, da gehe ich nicht mit.

        Und die “Nicht-Mentalitätsspieler-Debatte” wäre auch noch zu führen ..

      2. @wipf1953:

        Es ist nicht so ganz klar, was du genau unter “unausgewogenem Kader” verstehst. Der aktuelle FCB-Kader wird weltweit gelobt, gefürchtet und beneidet. Wir lassen hierfür unseren “alten Freund” Mourinho stellvertretend für die sicherlich weit mehr als 99% der FCB- bzw. Fußballfans sprechen, die nicht deiner Meinung sind:
        https://fcbayerntotal.com/2023/03/11/mourinho-neidisch-auf-nagelsmann/

        Auch die “Mentalitätsdebatte” führst du nach dem gestrigen Spiel doch im falschen Verein. Diese wird im Fußball eigentlich eher dann geführt, wenn Teams in Spitzenspielen versagen, weniger wenn sie gegen vermeintlich schwächere Gegner “schludrig” und unkonzentriert sind.

        Vielleicht meinst du aber beim FCB auch schlichtweg nur die falsche Sportart 😉 Gerade im internationalen Vergleich mangelt es “deinen Basketballern” doch ganz klar an der nötigen Klasse, “Ausgewogenheit” und wohl auch “Mentalität” … oder etwa nicht?

  2. Ein Mittelfeld ohne rein defensiven Sechser und ohne ballsichere Achter ist unausgewogen.

    Das führt dann dazu, dass drei Innenverteidiger sehr hoch stehen und 2/3 des Spielfelds kontrollieren sollen.

    Und dann stelle man sich vor, es gäbe bei Bayern keinen EMCM .. plötzlich ist der Sturm-backup (von dem ich immer viel gehalten habe) Stammspieler und der 22 Mio. Gehalt / 32 Mio. Ablöse Mane ist es nicht ..

    Aber warten wir doch einfach ab, ob Tuchel es schafft, City rauszuwerfen. Je nach CL-Ergebnis könnte im Sommer einiges passieren.

    1. Wer war denn dieser “Supermann” in der sensationellen Sextupel-Saison 2020?
      Supermann deshalb in Anführungsstrichen, weil das keine Situation im modernen Fußball mehr ist. Die “Sechser” dirigieren das Spiel von hinten, haben im modernen Fußball extrem an Bedeutung gewonnen und den Zehner aus dem letzten Jahrhundert ersetzt.
      Warum bestimmt explizit die Positionierung des Sechsers diejenige der Innenverteidiger? Gestern hat Tuchel übrigens mit klassischer Viererkette (also 2 IV) agiert …
      PS: “EMCM” habe ich bislang tatsächlich noch nicht gelesen …”Choupo” ist aber auch nicht viel länger 😉

      1. 2020 war der Goretzka echt stark …

        Aber es war halt auch die Corona-Saison, mit einem ganz anderen Modus. Da hat die Flick-Taktik, alles zu überrennen, so gut funktioniert wie nie zuvor oder danach. Heute ist vom damaligen “Übertrainer” Flick nicht mehr viel übrig geblieben.

      2. Das extreme “Schwarz-Weiß-Denken” in der heutigen Gesellschaft macht auch vor dir nicht Halt …

        Nagelsmann hat sich dazu auch mehr als passend geäußert:
        Starke Worte: Nagelsmann über das extreme mediale Schwarz-Weiß-Denken beim FCB

  3. Ein (wie immer) sehr guter Spielbericht.
    Kleine Frage: Warum wurde dem Kobel das erste Tor gutgeschrieben? Ich habe ein paar Wiederholungen gesehen und in keiner davon sieht es so aus, als würde er den Ball berühren.

    Grüsse auch an Flobe. Es ist mir eine Ehre, euch kennenzulernen.

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