Die talentierteste aber sensibelste FCB-Mannschaft aller Zeiten?

Kommentar von Petersgradmesser

Die Notwendigkeit der Entlassung von FCB-Chefcoach Julian Nagelsmann ist nach wie vor ein heiß diskutiertes Thema. Die Bosse argumentierten hauptsächlich damit, dass die Resultate zuletzt nicht mehr gestimmt hätten, obwohl der 35-Jährige vor der den Prozess auslösenden 1:2-Pleite in Leverkusen mit seinem Team wettbewerbsübergreifend acht von neun Spielen, darunter beide gegen PSG, gewonnen hatte. Dass irgendetwas mit dieser hochtalentierten Mannschaft nicht stimmen würde, war sonnenklar – es ist nun aber auch ganz offensichtlich, dass der Wechsel von einem Klasse- zum anderen Klassetrainer nicht die simple Lösung eines ganz offensichtlich komplexen Problems ist.

Nach den beiden deutschen Toptrainern Julian Nagelsmann und Hansi Flick, der bei der WM in Katar an ähnlichen Problemen verzweifelte bzw. scheiterte, ist nun Thomas Tuchel der Dritte im Bunde, der sich dieser rätselhaften Mannschaft annimmt – und aus Bayern(fan)sicht hoffentlich nicht scheitert.

Diese Bayern-Mannschaft hat – mindestens – zwei Gesichter: Neben den nahezu unfassbaren Diskrepanzen zwischen den Leistungen in der Champions League und den nationalen Wettbewerben, wobei das Pokalgesicht bis gestern absolut ok war, gibt es noch andere bedenkliche Auffälligkeiten.

Bereits zu Beginn der Saison war es auffällig, dass das Team Galaauftritten in der ersten Halbzeit regelmäßig schwächere unkonzentrierte zweite Halbzeiten folgen ließ: Beim Supercup in Leipzig verspielte man fast noch eine äußert souveräne 3:0-Halbzeit-Führung, bis zu Sanés 5:3 in der Nachspielzeit stand das Spiel auf Messers Schneide. Dem amtierenden Europa League Sieger Eintracht Frankfurt wurden beim BL-Saisonauftakt im eigenen Stadion in Halbzeit 1 mit 5:0 brutal die eigenen Grenzen aufgezeigt, die zweite Halbzeit (Endstand 6:1) war nur noch ein Austrudeln. Auch im ersten BL-Heimspiel gegen Wolfsburg stand das Endergebnis (2:0) schon zur Halbzeit fest. Motto in der zweiten Halbzeit jeweils: Ein Pferd springt nicht höher als es muss. Die Spiele waren damals jedoch jeweils total unter Kontrolle.

Zu Saisonbeginn überrollten die Nagelsmänner die nationale aber auch internationale Konkurrenz – und nach einer mehrwöchigen BL-Ergebniskrise im September nochmals bis zur WM in Katar: Die Heimspiele wurden mit 4:0 (Leverkusen), 5:0 (gegen den damaligen Tabellen-Zweiten Freiburg), 6:2 (Mainz) und 6:1 (Werder) gewonnen, die CL-Vorrundengruppe (mit Inter und Barcelona) mit sechs Siegen abgeschlossen.

Das deutsche WM-Ausscheiden nach den Gruppenspielen hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit der ersten genannten Ergebniskrise: Die Trainer Flick und Nagelsmann waren machtlos. Dies setzte sich nach dem Re-Start im Januar fort: Erstmals in der Saison stimmten aber bei den drei aufeinanderfolgenden 1:1-Unentschieden weder das Ergebnis noch die Leistung. Das konnte aber wieder korrigiert werden und so stimmte beides wieder in den folgenden neun Spielen – mit Ausnahme der Niederlage in Gladbach, welche jedoch maßgeblich durch die sehr frühe SR-Fehlentscheidung, die zum Platzverweis von Dayot Upamecano führte, beeinflusst wurde. Dann das (nicht wirklich) unerklärliche 1:2 in Leverkusen, Trainerwechsel – und Thomas Tuchel musste in seinen ersten beiden FCB-Spielen gleich die gesamte Bandbreite des FCB-Saison-Dilemmas miterleben.

Das war der Spielfilm dieser bislang rätselhaften Saison in Kurzversion. Einige Zahlen verdeutlichen das Dilemma auf dramatische Art und Weise.

National: Sehr schwache Bayern in der 2. Halbzeit

Weiter oben wurde bereits das FCB-Motto “Ein Pferd springt nicht höher als es muss” für die insgesamt sehr souveräne erste Saisonphase angesprochen. Dieses Motto galt zuletzt keineswegs mehr, das Pferd konnte nicht mehr so hoch springen, wie es sollte – fast in jeder zweiten Halbzeit in der Bundesliga.

Die Bayern weisen aktuell in der Bundesliga nach 26 Spieltagen ein durchaus starkes Torverhältnis von 76:29 auf, mit einer bemerkenswerten Aufteilung: 51:10 Tore in Halbzeit 1, 25:19 in Halbzeit 2!

Hoppala – aber diese durchaus wenig erfreuliche Überraschung, was die Entwicklung der FCB-Partien im deutschen Fußballoberhaus betrifft, kann man noch steigern:

In den 15 Spielen bis zur WM-Pause war das Torverhältnis des FC Bayern ausgezeichnet: 49:13 – 32:6 in Halbzeit 1 – absolut überragend, 17:7 in Halbzeit 2 – noch akzeptabel. In den 11 Spielen nach der WM sieht es aber wesentlich düsterer aus: 27:16 – 19:4 – katastrophale 8:12 Tore in der 2. Halbzeit! 2023 gewannen die Bayern ganze zwei von 11 zweiten Halbzeiten in der Bundesliga – und verloren satte sechs!! Die zwei “gewonnenen” waren übrigens gegen Köln – Kimmich glich kurz vor Spielende per Gewaltschuss zum 1:1 aus – und gegen Bochum – 3:0 nach 1:0-Halbzeit-Führung! Gegen Leipzig, Frankfurt, Gladbach, Augsburg, Leverkusen und Dortmund wurden die 2. Halbzeiten in 2023 verloren – und nun auch gestern im Pokal gegen Freiburg – somit ist schon einmal der erste Titel weg! Die letzte gewonnene zweite Halbzeit (gegen Bochum) liegt übrigens fast schon zwei Monate zurück!

Auf die gesamte Bundesligasaison gesehen waren die Bayern nur in vier(!) von 26 Spielen vom Ergebnis gesehen in der 2. Halbzeit besser als vor der Pause – 19 Mal schlechter. Jetzt könnte man sich die Sache ganz einfach machen und damit argumentieren, dass die Bayern eine schlechte Kondition hätten und hätte somit einen simplen Ansatz im verbesserten Ausdauertraining (was so spät in der Saison allerdings unmöglich wäre). Nicht nur der Blick auf ganz andere Statistiken in der Champions League gegen wesentlich hochklassigere Teams als in der Bundesliga sagt, dass dies nicht des Rätsels Lösung ist. Natürlich hat mangelnde Konzentration häufig auch mit fehlender Kondition etwas zu tun, bei den FCB-Spielern scheint die Ursache jedoch vielmehr im mentalen Bereich zu liegen.

Die nationalen FCB-“Horrorbilanzen” nach der WM

  • Vor der WM erzielte der FCB in 11 von 15 BL-Spielen das letzte Tor im Spiel, nach der WM erzielten die FCB-Gegner in 7 von 11 BL-Spielen das letzte Tor.
  • In den letzten fünf Spielen in nationalen Wettbewerben erzielte immer der Gegner das letzte Tore – in den letzten drei Partien sogar die letzten beiden Tore!
  • In den letzten vier Spielen sprachen die Schiedsrichter insgesamt fünf Elfmeter gegen den FCB aus – alle fünf in Halbzeit 2, alle fünf wurden verwandelt. Bei keinem einzigen Elfmeter handelte es sich in der Entstehungsgeschichte um eine klare Torchance für die Gegner – alle gehören in die Rubrik komplett unnötig.

Überragende Champions League Bilanz – vor allem in Halbzeit 2

Die Bilanz der Bayern, vor allem wenn man die Namen der Gegner betrachtet, scheint in der Fußball-Königsklasse die einer komplett anderen Mannschaft als die der nationalen Bayern zu sein.

Acht Spiele – acht Siege – 21:2 Tore. In den sechs Spiele gegen den FC Barcelona, Inter Mailand und Paris St. Germain wurde jede zweite Halbzeit gewonnen – mit insgesamt 8:0 Toren.

Trotzdem wiederum bezeichnend, dass man gerade gegen den absoluten Underdog Viktoria Pilsen beim Auswärtsspiel nach einer satten 4:0-Halbzeit-Führung die einzigen beiden CL-Gegentore dieser Saison erhalten hat. Endstand: 4:2.

Kann Bayern etwa nur Topteam? Auch national – Supercup und Bundesliga – setzte es keine Niederlage gegen die fünf Verfolger. Das 1:2 gestern im Pokal gegen den aktuellen Tabellen-Vierten Freiburg bildet da die Ausnahme – das BL-Hinspiel wurde spielend leicht mit 5:0 gewonnen, am Samstag der BVB bis auf die Schlussphase auseinander genommen. Spielte das in den Köpfen einiger Bayernspieler vor den beiden CL-Duellen gegen ManCity etwa auch schon (wieder) eine Rolle?

Mentalitätsprobleme” – zu sensibel?

Was ist wirklich los mit diesen Bayern? Interessanterweise sind sie – trotz der national ergebnismäßig sehr starken 1. Halbzeiten – auch keine absoluten Topstarter in den Begegnungen. In den ersten Minuten wirkt die Mannschaft selten hellwach, teilweise sogar verunsichert. Köln und Augsburg haben das in München mit sehr frühen Gegentoren ausgenützt. Kommen die Bayern allerdings einmal ins Rollen, gleicht das für den Gegner nicht selten einer Lawine, einem Tsunami – er wird in wenigen Minuten überrollt, deklassiert. Das dauert dann solange, bis die Bayern selbst das Tempo mehr und mehr aus dem Spiel nehmen, sich selbst immer weiter aus dem Spielrhythmus bringen, den Gegner wieder einladen, selbst aktiv am Spiel teilzunehmen. Die Gegner nehmen das ALLE liebend gerne an: Warum auch nicht, wenn man statt einer fürchterlichen Klatsche plötzlich sogar die Chance bekommt, noch einen oder drei Punkte mitzunehmen?

Häufig werden die Einwechselspieler kritisiert, dass mit ihnen ein Bruch im Spiel erfolgt – das ist jedoch meist ungerecht. Denn der Spielrhythmus wurde meist vorher schon so sehr unterbrochen, dass die neuen Spieler in diesem Chaos eigentlich die ärmsten Schweine sind.

Warum aber fallen die Bayern immer wieder in diesen Schlafwagen-Modus, der dann auch zum Chaos-Modus werden kann? Wo ist der Lerneffekt? Wenn ich das nicht managen kann, muss ich es unterlassen und den Gegner weiter von einer Verlegenheit in die andere jagen. So ist es meist zum Spielende andersherum. Gestern gegen Freiburg wurde das Tempo übrigens schon sehr früh erstmals gedrosselt – die Quittung war der prompte Ausgleichtreffer der Breisgauer.

Hansi Flick war wohl bei der WM teilweise ratlos, Julian Nagelsmann ebenso beim FCB – und nun muss Thomas Tuchel etwas lösen, was vielleicht am ehesten ein richtig guter Mentaltrainer angehen könnte. Wie sieht es eigentlich damit an der Säbener Straße aus? Ist der vorhanden (und wirklich gut), kann ein Trainer auch einmal zum Relaxen in einer Länderspielpause und in einer kurzen vereinbarten Trainingspause zum Skifahren gehen – und einmal Ehemaliger müsste sich dann nicht so einen Quatsch zusammenreimen …

PS: Hoffentlich kommt niemand auf die Idee, dass man gegen das überragende Team von ManCity in den beiden Spielen ganz einfach in den bisher so erfolgreichen Champions League Modus umschalten kann. Das Team wirklich leider derzeit insgesamt sehr verunsichert.


Titelbild: Jubelnde Bayern sehen wir Fans am liebsten – aber nicht nur wie auch hier gegen den FCA in der 1. Halbzeit.

5 Kommentare zu „Die talentierteste aber sensibelste FCB-Mannschaft aller Zeiten?

  1. Es ist eben auch ein Qualitätsmerkmal, Weltklasse oder zumindest sehr hohes Niveau permanent (!) abzurufen. Wir haben in unserer Mannschaft viele Spieler, die leider nur “gelegentlich Weltklasse” sind. Gnabry und Sané sind zwei Beispiele, momentan leider auch ein aus meiner Sicht unter seinen Möglichkeiten spielender Goretzka, und Mané ist derzeit – aus erklärbaren Gründen – völlig von der Rolle. Choupo im Sturm “gut bis sehr gut”, aber eben nicht mehr. Kann man ihm nicht vorwerfen, ist aber so und genügt langfristig den Ansprüchen des FC Bayern nicht.

    Der aus meiner Sicht hysterische und wenig nachvollziehbare Trainerwechsel mitten in der heißen Phase der Saison hat auch nicht gerade dazu beigetragen, Stabilität und Ruhe ins Mannschaftsgefüge zu bringen. Und das ständige Gerede vom Triple nervt einfach nur noch, fast schon gut dass dieses Thema jetzt durch ist!

    1. Die Mannschaft hat oder besser ausgedrückt hätte tatsächlich ein unglaubliches Potenzial. Warum sie derzeit so “unterperformt”, keine Ahnung.
      Ein klein wenig möchte ich dir widersprechen. Anders als in anderen Sportarten kann man im Fußball keineswegs immer Weltklasse spielen, ebenso in anderen Mannschafts(ball)sportarten.
      Aber als “Weltklasseteam” muss ich eben immer ein paar Prozentpunkte besser als der Gegner spielen. Hat man dann (wie auch gestern ein bisschen) nicht das ganz große Spielglück auf seiner Seite, dann reicht das im Ergebnissport Fußball auch nicht. Apropos Ergebniskrise, wie auch im Text angesprochen.
      Danke für die detaillierte Statistik zu den Halbzeiten. Ich hätte nicht gedacht, dass das so gravierend ist. Da muss man in den nächsten Bundesligaspielen ohne eine 3:0-Halbzeitführung ja immer bibbern.

    2. Ja, das alles kommt am Ende dabei raus.
      Aber was siehst du z.B. für Gründe dafür, dass man auch in der BL in Hz 1 alles in Grund und Boden spielt – um dann in Hz 2 so erschreckend nachzulassen? Die mangelnde Kondition kann es doch wirklich nicht sein. Angeblich war das Trainingslager in Katar ein ganz hartes, um die Basis für eine sehr gute Kondition nach dem Restart zu haben.
      Dass Choupo derzeit auch nicht so in Form ist (wie bis zum Rückspiel gegen PSG), liegt aber sicherlich auch an der Verletzung. “Rücken” ist eine ekelhafte Geschichte.

  2. Ich möchte ein interessantes Detail hinzufügen: von 8 Spielen in dieser Saison, in denen die Mannschaft nur ein Tor erzielte, haben wir nur eines gewonnen.

    Die talentierteste FCB-Mannschaft aller Zeiten? Glaube ich nicht. Wer in unserem aktuellen Kader hätte in der Mannschaft, die 2013 UCL gewonnen hat, als Stammspieler sein können? Vielleicht nur Musiala, de Ligt und Davies mMn.

    1. Sehe ich genau anders herum: von 2013 hätten lediglich Neuer, Lahm und Robbery eine Chance in der heutigen Mannschaft.
      Boateng (wurde vor dem Finale von Klopp sogar als FCB-Schwachstelle gesehen und hatte seine besten Jahre noch vor sich), Dante, der 20-jährige Alaba, selbst Schweinsteiger, Martinez (die beiden letztgenannten wegen ihrer Geschwindigkeitsdefizite), Gustavo, Mandzukic würden heute alle nicht in der Stammelf spielen.
      Müller spielt ja noch 😉
      Coman und Sané können es vom Talent her auch mit Rib&Rob aufnehmen.

      Ich spreche übrigens nicht von der besten Bayernmannschaft aller Zeiten, sondern der “talentiertesten”. Das beinhaltet (siehe Text), dass die aktuelle Mannschaft sehr viel Potenzial nicht abruft.
      Musiala steht für mich vom Talent über allen Spielern von 2013 und heute.

      Und bei der besten FCB-Mannschaft aller Zeiten weiß ich nicht, ob ich die von 2013 oder die von 2020 nehmen würde … eine Stufe – und bei der von 2020 sind schon wieder einige heutige Spieler dabei.

      Vielleicht ist aber auch der WM-Titel, Europapokalsieg und Meisterschaft 1974 mehr als die beiden Triple? ,-)

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