Kollektiver Burnout einer ganzen Mannschaft – gab es das jemals beim FC Bayern?

Kommentar von Petersgradmesser

Auch wenn das viele nicht wahr haben wollen, ignorieren oder schlichtweg vergessen haben: Die aktuell von allen Seiten kritisierte FCB-Mannschaft hat in dieser Saison mindestens ein Dutzend an überragenden Spielen abgeliefert, ist vom Potenzial absolut fähig, jedes Team der Welt – auch klar – zu besiegen und kann an einem guten Tag jede Bundesligamannschaft mit einem Kantersieg nach Hause schicken. Aus nahezu unerfindlichen Gründen kann dieselbe Mannschaft aber auch gegen jedes BL-Team verlieren und scheinbar sicher geglaubte Führungen abgeben. Ein Phänomen, welches ich als jahrzehntelanger Anhänger und Vereinsmitglied in dieser krassen Ausprägung noch bei keiner anderen FCB-Mannschaft erlebt habe.

Die ganz offensichtliche mentale – keineswegs fußballerische – Schwäche der aktuellen Mannschaft lässt jetzt mit Thomas Tuchel den dritten Klassetrainer in dieser Saison scheitern bzw. verzweifeln: Julian Nagelsmann wurde vor einem Monat – in einem Aktionismuswahn der Vereinsbosse – entlassen, Hansi Flick, der bei der WM auf einen großen FCB-Block vertraute, schied mit diesem in der Vorrunde aus und wer den ratlosen Thomas Tuchel auf der PK nach dem Mainz-Desaster sah, konnte fast schon Mitleid mit ihm bekommen.

Mitleid bekommt diese Mannschaft sicherlich keines, weder von den sensationslüsternen Medien, noch von den gegnerischen Fans und genauso wenig von einer Vielzahl an eigenen Fans: Viele dieser Fans (meist pure Erfolgsfans, anders kann man sie schlichtweg nicht nennen) wüten jetzt gegen den eigenen Verein, die eigenen Spieler – in einer Art und Weise, die mich persönlich schlichtweg anwidert. Sie bezeichnen ihre Auswüchse als Kritik – was auf diesem niedrigen Niveau sicherlich nicht ansatzweise der Fall ist. Die korrekten Bezeichnungen sind Mobbing, Bashing, Beleidigung auf niedrigsten Level. Überbordende Häme von allen Seiten ist auch ein inflationärer Wegbegleiter.

Was aber sind die Gründe für diese unglaubliche – mentale – Krise einer derartigen Klassemannschaft?

WM in Katar

Als zwei Drittel der Bayernspieler Mitte November 2022 zur Weltmeisterschaft nach Katar reisten, war das Team gerade in überragender Form: Der werdende spanische Meister FC Barcelona wurde kurz vorher im Camp Nou mit 3:0 filetiert, u.a. Leverkusen (4:0), Freiburg (5:0), Mainz (6:2) und Werder (6:1) in der Bundesliga in alle Bestandteile zerlegt.

Völlig überlastet von politischen Vorgaben der Medien und Fanszenen (nein, es war nicht die Politik selbst!) waren die deutschen Nationalspieler auch außerhalb des Spielfeldes ge- und überfordert. Als sie dann auf äußerst unglückliche Art und Weise bereits in der Vorrunde scheiterten, wurden die Kicker von obengenannten schändlich im Stich gelassen, von Medien und normalen Fans beschimpft, beleidigt etc.

Auch die FCB-Nationalspieler der anderen Länder kamen fast ausnahmslos mit einem (mentalen) Paket zurück. Hinzu kamen der Kreuzbandriss von Lucas Hernández, Sadio Mané hatte sich schon vor der WM schwer verletzt, Noussair Mazraoui kam mit einer langwierigen Herzmuskelentzündung infolge einer nicht vollständig auskurierten Corona-Erkrankung während des Turniers zurück. Quasi als Krönung verunglückte Kapitän Manuel Neuer bei einer gefährlichen Skitour, als er völlig frustriert die WM verarbeiten wollte, und zog sich einen komplizierten Unterschenkelbruch zu.

Diese verflixte WM wirkt immer noch gewaltig nach beim FCB!

Manuel Neuer hat als Kapitän versagt

Man muss jetzt nicht darüber diskutieren, ob Neuers Ausflug bei extrem schlechten Schneebedingungen eine grobe Fahrlässigkeit oder schlichtweg nur ein bedauerlicher Unfall in der Freizeit war, in welcher er grundsätzlich machen darf, was er will. Sein Ausfall hat das Team nachhaltig geschwächt, kein anderer Keeper hätte ihn während der Saison adäquat ersetzen können.

Was ich ihm persönlich sehr stark verüble, ist sein weinerliches SZ-Tapalovic-Interview. Motivation: Einzig und allein purer Egoismus. Als immer noch amtierender Teamkapitän hätte er dabei viel mehr an seine Mannschaftskollegen denken müssen. Er wusste, er musste wissen, welch sensibles Gebilde diese Mannschaft darstellt. Anstelle sich als Kapitän – auch in der Reha – um die Mannschaft zu kümmern, hat er dieser zahlreiche unnötige Journalistenfragen aufgehalst, die zusätzlich verunsichert und abgelenkt haben. Als einst riesiger Fan des 5-fachen-Welttorhüters kann ich nur sagen, dass er in dieser Causa komplett versagt hat. (Dieses Thema könnte man nun natürlich wieder zu einem Roman aufblähen)

Ein richtiger Anführer würde der Truppe übrigens sehr gut tun und fehlt in dieser Saison brutal: Thomas Müller hat auf dem Platz nicht mehr die entsprechende Wertigkeit, Joshua Kimmich scheint in dieser Funktion nicht wirklich, zumindest keineswegs von allen akzeptiert zu werden – und sonst gibt es schon keinen mehr.

Die Nagelsmann-Entlassung

Nach dem Re-Start im Januar 2023 lief es spielerisch bei Weitem nicht mehr so gut wie im überragenden Herbst, aber der FCB war zum Zeitpunkt der Nagelsmann-Entlassung vor einem Monat noch hoffnungsvoll in allen drei Wettbewerben vertreten. Kurz zuvor war einer der großen CL-Favoriten – PSG mit Messi und Mbappé – äußerst souverän (1:0; 2:0) eliminiert worden. Kahn, Brazzo & Hainer hatten sich zuvor kategorisch hinter das Langezeit-Projekt Nagelsmann gestellt, um ihn dann völlig überraschend mit zweifelhaften Argumenten (“Kabine verloren”) und auf katastrophale Art und Weise zu entlassen. Vor der auslösenden Niederlage in Leverkusen (1:2 nach 1:0-Halbzeit-Führung – das klassische FCB-Muster 2023) wurden wettbewerbsübergreifend acht von neun Partien gewonnen. Nur in Gladbach hatte man verloren, musste dort nach einer katastrophalen SR-Fehlentscheidung fast das gesamte Spiel in Unterzahl spielen.

Nagelsmann war bei einer Mehrzahl der Spieler wohl wesentlich beliebter als es die Presse vermitteln wollte, viele Fans glauben wollten und selbst die Bosse wussten. Der gnadenlose Rauswurf des Trainers hat die Mannschaft bis ins Mark getroffen – ein brutaler Fehler von Kahn, Brazzo & Co.

Die Spieler konnten sich offensichtlich trotzdem sehr schnell auf den neuen Coach Thomas Tuchel einlassen, der dies mit seiner Empathie ermöglichte. Aber dies konnte die Abwärtsspirale nicht aufhalten.

Permanente Benachteiligungen bei SR-Entscheidungen

Als langjähriger FCB-Fan konnte ich schon immer nur mit dem Kopf schütteln, wenn es um die Behauptung des sog. Bayern-Bonus ging. Speziell in den letzten 20 Jahren habe ich das schon eher anders herum gesehen. Aber die Dimension der Benachteiligungen durch SR-Entscheidungen in dieser Saison ist eigentlich unglaublich. Noch unfassbarer ist, dass neben den Medien und den Fans (speziell BVB-) anderer Vereine selbst FCB-Fans diese krasse Benachteiligung ignorieren: Als Bayernfan hätte man sich nicht über so etwas aufzuregen, das Team MUSS trotzdem alles kurz und klein schießen, das ist unserer (einziger) Maßstab.

Solche Aussagen sind an grenzenloser Arroganz nicht zu überbieten. Respektlos sowohl der eigenen Mannschaft als auch den Gegnern gegenüber! Nichts steht darüber in den Fußballregeln geschrieben, dass die überlegene Mannschaft, der Favorit, regelmäßig benachteiligt werden darf oder sogar soll.

Und wenn eine Mannschaft wie der aktuelle FCB derart verunsichert auftritt, dann tun die vielen krassen Fehlentscheidungen einfach noch mehr weh. Zuletzt verlor man regelmäßig danach zwei oder drei Punkte – fast immer nach eigener Führung.

Krisenbewältigung: Bitte kein weiterer Aktionismus!

Das Interview von Thomas Müller nach dem Spiel, noch mehr die PK mit Thomas Tuchel zeigte die gewaltige Ratlosigkeit beim FC Bayern. Sämtliche Flaschen scheinen leer – der kollektive Burnout einer ganzen Mannschaft, welche auf Weltklasseniveau kicken kann (könnte)! Wie Nagelsmann nach der WM schickt auch Tuchel seine geprügelte Truppe – bis Mittwoch – in (Kurz-)Urlaub. Die Köpfe sollen wieder etwas frei werden – ob das gelingt, bleibt offen.

Angeblich waren Kahn, Brazzo und Hainer gestern nach dem Spiel längere Zeit in der Spielerkabine. Hoffentlich hat dort der Vulkan gemäßigtere Töne als vor der Kamera gefunden. Auf eine hoch-veranlagte sensible Mannschaft, die mental völlig am Boden liegt, noch weiter draufzuhauen, ist das Schlimmste, was er machen kann. Dafür hat man ja die Medien und nicht wenige Fans.

Von allen Seiten werden jetzt immer wieder und immer mehr einzelne Spieler herausgepickt: Was soll das, wenn die gesamte Mannschaft weit unter ihrem Niveau spielt? Schon seit Herbst ist mein Vorschlag: holt euch nach dem (welt-)besten Greenkeeper bitte auch den (welt-)besten Sportpsychologen nach München. Ob der kurzfristig (siehe Trainerwechsel!) etwas bringen kann … keine Ahnung. Aber die meisten Spieler sollten auch in der Saison 2023/24 noch an der Säbener Straße trainieren …

PS: Droht Fußball-Deutschland tatsächlich ein Deutscher Meister, der vor nun drei Wochen dem FCB derart unterlegen war, dass selbst die eigenen (BVB-)Fans resigniert eingestanden haben, dass auch eine 0:8-Klatsche möglich war? Wie pervers ist das denn?

Veröffentlicht von fcbayerntotal

Admin und Autor von FC Bayern Total

7 Kommentare zu „Kollektiver Burnout einer ganzen Mannschaft – gab es das jemals beim FC Bayern?

  1. Ich sehe den Punkt “Nagelsmann” nicht so wie du. Auch wenn der den Trrainerjob vielleicht schon seit 10 Jahren macht, ist es etwas komplett anderes, den FC Bayern zu trainieren, als zuvor die Fußballbiotope Hoffenheim und RB Leipzig.

    Bei Hoffenheim und RB Leipzig trainiert man Spieler mit einem Karriereplan. Die wollen den nächsten Schritt machen, und gehen bewusst nicht zu einem “Traditionsclub” (wie S04, Nürnberg oder 1860, wo man sich vor lauter Intrigen nicht auf den Fußball konzentrieren kann und, wenn es blöd läuft, schneller mal wieder gegen den Abstieg spielt als ein Eichhörnchen auf den Baum hüpft …). Sondern die gehen bewusst zu einer Organisatuon, die selbst ernannte “Traditionsfans” als Plastikclub bezeichnen. Was für mich immer schon ein Indiz war, dass diese Spieler was auf dem Kasten haben …

    Wer bei Bayern spielt, ist bereits das, was die Spieler von Hoffenheim und RB Leipzig erst noch werden wollen. Ein Star, der jeden Tag im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht. Die sind aber auch anders im Umgang als die Kicker in Hoffenheim oder Leipzig ..

    Es hat schon seinen Grund, warum ein Bayerntrainer nur Erfolg hat, wenn er zuvor mit einem anderen Club die CL gewonnen hat (Hitzfeld, van Gaal, Heynckes, Guardiola, Ancelotti und jetzt Tuchel erfüllten / erfüllen alle dieses Kriterium). “Eins drunter”, als Trainertalent, nimmt einen die Mannschaft nicht ernst (siehe Kovac, der, im Vergleich dazu, wie Bayern jetzt spielt, vielleicht gar nicht so schlecht war ..).

    Ich bin z.B. der Meinung, dass die Mane-Geschichten (Nagelsmann-Konfrontation, Sane-Watschn) bewusst an die Presse durchgesteckt wurden, um ihm zu schaden. Mane ist vielleicht “kein Sonnenschein” (-> so ein Kommentar von Sky, ggf. auch gesteuert). Aber die Bayernmannschaft ist eine Schlangengrube. .. und damit hat Nagelsmann, der nur Biotope kennt, zu wenig Erfahrung. Folge ist, ihm fliegt der Laden um die Ohren ..

    2020 war das, was man in der Statistik einen “Ausreißer” nennt. Ein CL-ko-Finalturnier, das – wie eine WM – in jeder Runde nur mit einem Spiel ausgespielt wird, eine Bayernmannschaft, die (i) die Corona-Pause so gut wie keine andere zum Trainieren genutzt hatte (Goretzka-Muskeln …) und die (ii) im Turnier besser eingespielt war (DFB-Pokal, Liga) als ihre Gegner, hat in diesem speziellen Modus alles überrollt. Daraus hat man offenbar den Schluss gezogen, dass der damalige Fußball das “Ein und Alles” ist. Und man wollte unbedingt Nagelsmann, weil dessen Mannschaften so spielen wie Bayern 2020. Dass er einfach nicht die Lebenserfahrung haben kann für die Verhältnisse, die bei Bayern nun mal bestehen, hat man da offenbar ausgeblendet.

    Sich von Flick zu trennen finde ich auch aus heutiger Sicht nicht falsch (-> die Darbietungen der DFB-Elf sind nichts, womit er punkten könnte). Aber man hätte auf Nr. sicher gehen und einen “großen Trainer” verpflichten sollen.

    Und jetzt hat eine von Nagelsmann trainierte, auf Nagelsmann hingescoutete Bayernmannschaft Probleme. Mental, aber vielleicht sogar fußballerisch (eine Führung nach Hause spielen können sie jedenfalls nicht …). Hat diese Mannschaft Siegeswillen? Ist das eine eingeschworene Gemeinschaft? Oder eher ein Klüngel, ein Zirkus, eine Ansammlung von Söldnern? Dieser auf die Nagelsmann-Bedürfnisse zugeschnittene Kader muss im Sommer komplett auf den Prüfstand.

    Ich gebe dir recht, dass der Trainerwechsel zu den jetzigen Problemen geführt hat. Aber – der Wechsel kam zu spät.

  2. Sehr sehr guter Artikel. Hier scheint sich jemand wirklich sehr gut beim FCB auszukennen und sehr vernünftige schlüssige Argumente zu bringen.

    WM, fehlende Führungsstruktur (Neuer!), Nagelsmann-Trennung (zusätzlich zur völlig falschen Zeit), SR-Desaster … unterschreibe ich alles sofort.
    Vielleicht sollte man auch erwähnen, dass allzu große Erwartungen – Triple, Triple, Triple – auch lähmen können.

    Die Mannschaft versteht sich zwar ganz offensichtlich untereinander insgesamt sehr gut – ist aber extrem bzw. zu sensibel und bräuchte jetzt so einen Anführer wie früher Effe (allerdings spielerisch viel stärker 😉 ), der sie in schwierigen Zeiten wirklich führt.

    Danke für die hervorragende Arbeit!

  3. Jahr für Jahr immer ALLES erreichen zu MÜSSEN lähmt die Mannschaft irgendwann! Auch ich als Fan empfinde das als ermüdend… eine Folge daraus ist wohl, dass dieser Verein “nicht (mehr) in Würde verlieren kann”, wie ein gemeinsamer guter Bekannter mal gesagt hat 😉

  4. Ich bin mit allem genau der gleichen Meinung wie Sie als Verfasser. Zudem ist es mal kein Beinbruch oder gar der Weltuntergang, mal eine Saison ohne Titel zu sein.

  5. Ein Funken Hoffnung: Auch wenn das Spiel gestern sehr zäh war (die Tore allerdings Weltklasse):
    Das hier erwähnte resignative Statement von Müller in Mainz und seine Reaktionen nach dem Spiel gestern: Das waren Unterschiede wie zwischen Tag und Nacht. Bitte alle anstecken!
    Auch das strahlende Lachen vom King nach seinem 2:0, insgesamt die frenetischen Jubelszenen nach beiden Toren – da scheint wieder viel mehr Leben drin zu sein.
    Ab sofort ist jedes Spiel ein Endspiel …

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