Drama pur: Anderssons Freistoß – 4-Minuten-Meister S04 – das emotionalste Saisonfinale aller Zeiten

Am 19. Mai 2001 erlebte die Bundesliga das dramatischste Finale seiner Geschichte – am Ende jubelten die Bayern und Schalke versank in einem einzigen Tränenmeer. Dabei  hatte man schon gedacht, dass am vorletzten Spieltag, der ebenfalls an Dramatik kaum zu überbieten gewesen war, die (Vor-)Entscheidung gefallen wäre. Der Reihe nach …

Rückblickend betrachtet war die Saison 2000/01 trotz des herausragenden Finales – Deutsche Meisterschaft und erster Königsklassen-Triumph nach 25 langen Jahren des Wartens – eine vor allem in der Bundesliga äußerst mäßige des FC Bayern. Am Ende gewannen die Münchner ihre 17. Deutsche Meisterschaft mit lediglich 63 Punkten und 62:37 Toren. 19 Bundesligasiegen standen satte 9 Niederlagen gegenüber. Nur 1993/94 hatte man – umgerechnet in die 3-Punkte-Regelung – eine schwächere Bilanz als Bundesligameister, 29 Mal war man – zumeist klar – besser. Auch in der aktuellen Saison 2022/23 hat man zwei Spieltage vor Schluss schon wesentlich mehr Punkte als damals als Meister gesammelt.

Es war insgesamt eine Bundesligasaison mit vielen emotionalen Spielen, vielen Enttäuschungen. Das beste Spiel war wohl der grandiose 6:2-Heimspielsieg in der Vorrunde gegen den BVB, der lange Zeit auch um den Titel mitspielte und am Ende Dritter wurde.

Das Rückspiel in Dortmund, das Samstagabendspiel des 28. Spieltags am 7. April 2001, geriet zur Schlacht: Die Bayern führten früh durch Roque Santa Cruz (6.), Fredi Bobic glich kurz nach der Halbzeit aus. Es gab eine Unmenge an gelben Karten, vor allem für Bayernspieler. Bixente Lizarazu musste bereits früh (35.) mit Gelb-Rot vom Platz, Stefan Effenberg folgte nicht so viel später (55.) mit glatt Rot. Es war in der 2. Halbzeit eine Abwehrschlacht, bei einem Freistoß an den Innenpfosten kurz vor Spielende hatten die Bayern großes Glück, die anschließende Jubelgeste von Oliver Kahn mit dem vom Pfosten abgeprallten Ball in der Hand war wohl die Szene des Spiels. Das in doppelter Überzahl spielende Dortmund am Ende entnervt und deprimiert – auch Evanilson musste kurz vor Spielende nach einer Tätlichkeit vom Platz.

Zwar als moralischer Sieger dieses 1:1-Unentschiedens, aber personell arg geschwächt traten die Bayern eine Woche später gegen den Zweiten Schalke 04 an: Der Jubel im ausverkauften Olympiastadion über Carsten Janckers frühes 1:0 dauerte nur kurz an: Ebbe Sand erschoss die Bayern mit einem Hattrick fast im Alleingang: Diese 1:3-Heimniederlage schien die Vorentscheidung in der Meisterschaft zu Ungunsten des FCB zu sein.

Die nächsten drei Spiele gewannen die Bayern. Jedoch geriet die Bundesliga angesichts  einer scheinbaren Fokussierung auf die Champions League ein bisschen in den Hintergrund. Dass die Bayern am 32. Spieltag zwischen den beiden CL-Halbfinalspielen gegen Real Madrid (1:0; 2:1) durch ein spätes Santa-Cruz-Kopfball-Tor beim Tabellen-Vierten Leverkusen mit 1:0 gewannen, nahm man lediglich wohlwollend zur Kenntnis.

Drama Teil 1 – 33. Spieltag

Vor dem 33. Spieltag schien Schalke in der besseren Ausgangssituation im Meisterschaftsrennen zu sein: Zwar punktgleich mit den Bayern, aber zum einen mit dem besseren Torverhältnis ausgestattet, zum anderen mit dem scheinbar leichteren Restprogramm: in Stuttgart und gegen Unterhaching, beide tief im Abstiegskampf.

Die Bayern trafen an jenem Spieltag auf den 1. FC Kaiserslautern. Die Pfälzer waren im vorderen Mittelfeld platziert, aber in München immer ein unangenehm zu spielender höchst motivierter Gegner. Das Spiel begann aus Bayernsicht katastrophal – 0:1 durch Lokvenc nach gerade einmal  5 Minuten. Mit diesem Spielstand ging es auch in die Halbzeitpause. In Stuttgart stand es zu dem Zeitpunkt zwischen dem VfB und S04 0:0.

Nach der Pause starteten die Bayern einen Sturmlauf – das 1:1 durch Jancker in der 56. Minute war die Belohnung. Zwar überlegen verkrampften die Bayern im weiteren Spielverlauf aber immer mehr, das 2:1 wollte einfach nicht fallen. Die Schalker schienen das in Stuttgart mitzubekommen und es gab im damaligen Neckarstadion wohl lange so etwas wie einen Nicht-Angriffs-Pakt. Die Gelsenkirchener würden bei diesen Spielständen als Tabellenführer in den letzten Spieltag gehen.

In beiden Stadien brach die letzte Spielminute an – und plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Der unmittelbar zuvor eingewechselte Alexander Zickler brachte die Bayern mit einem fulminanten Nachschuss mit 1:0 in Führung. Legendär dabei sein Torjubel: Zuerst schien er nicht zu kapieren, was er gerade angestellt hatte, dann explodierte er. Fast zeitgleich schoss in Stuttgart Krassimir Balakow die Schwaben gegen zu passive Schalker ebenfalls in Führung. Die frohe Kunde erreichte das Olympiastadion rasend schnell – das Stadion glich sofort einem Tollhaus. Kurz darauf Schlusspfiff in beiden Arenen – die Bayern waren gefühlt bereits Deutscher Meister – passive Schalker am Boden.

Dass das alles noch einmal getoppt werden konnte, konnte an jenem strahlenden Nachmittag im Münchner Olympiastadion niemand erahnen …

Drama Teil 2 – „4-Minuten-Meister S04“

Keine Ahnung, wie es der Mannschaft in der folgenden Woche vor dem finalen Spiel in Hamburg ging, bei uns Bayernfans ging das Zittern los: Was ist, wenn man die Meisterschaft in Hamburg doch noch verspielt? Die Leistungen in der Bundesliga waren während der gesamten Saison zu schwankend, als dass man sich wirklich sicher sein konnte.

Dennoch schien die Meisterschaft an jenem 34. Spieltag der Saison 2000/01 frühzeitig zu Gunsten der Bayern entschieden zu sein – und die Bayern taten gar nichts dafür! Die SpVgg Unterhaching – unfassbar, nach 2000 (Leverkusen!) schon wieder die Münchner Vorstädter- ging auf Schalke sehr schnell mit 2:0 in Führung. Schalke musste nun schon drei Tore schießen, um bei einer gleichzeitigen Niederlage der Bayern noch Meister werden zu können. Die Hachinger hätten sich durch diesen Sieg noch vom 16. Platz lösen können, der damals – es gab keine Relegation – noch den direkten Abstieg bedeutete. Dafür durfte aber Energie Cottbus nicht in München bei den Löwen gewinnen. Aber genau das passierte: Die Ostdeutschen gingen früh bei einigermaßen uninspirierten Sechzgern in Führung. Wahrscheinlich freute dies damals nicht wenige Löwenanhänger sogar, denn mit einem Streich konnte man beide ungeliebten Lokalrivalen stark ärgern bis ins Unglück stürzen …

Schalke glich kurz vor der Halbzeit mit einem Doppelschlag gegen U´haching aus. In Hamburg stand es noch 0:0. Alles war – leider – wieder ganz offen. Jeweils ein Tor auf der falschen Seite und Schalke wäre Deutscher Meister.

Aber die Spielvereinigung lebte noch und gab sich längst nicht auf: Abermalige Führung auf Schalke in der 69. Minute! Löwen und Bayern blieben zeitgleich passiv. Würden die Bayern denselben Fehler begehen wie Schalke eine Woche zuvor, nur auf das Ergebnis beim Titelkonkurrenten hoffen …?

Dann traf ausgerechnet der Ex-Löwe Jörg Böhme mit einem weiteren Schalker Doppelschlag (73.; 74.) die Hachinger tief ins Herz – das Spiel war entschieden, Unterhaching auch ob der ausgebliebenen Schützenhilfe der Löwen demoralisiert und chancenlos. Dass fast gleichzeitig Jancker in Hamburg zur 1:0-Führung der Bayern traf, welche aber – zu Unrecht – wegen eines angeblichen Foulspiels des Münchner Stürmers aberkannt wurde, ging schon damals unter und weiß heute fast niemand mehr.

Das Drama ging seinen Weg. Noch war Bayern Meister. Großes Zittern in Hamburg, Ebbe Sands 5:3 für S04 in der 89. Minute geriet zur Randnotiz.

Und dann köpfte Sergej Barbarez in der 90. Minute den HSV mit 1:0 in Führung. Der Jubel in Hamburg und auf Schalke war unendlich – es stellte sich die berechtigte Frage, wer mit diesem Treffer eigentlich Deutscher Meister geworden wäre – der HSV oder S04?

Die Bayern am Boden – Oliver Kahns „Weiter, immer weiter!“ schien in diesem Moment nur eine hohle Phrase zu sein, sein aufmunternder Schubser für Sammy Kuffour eine wertlose Geste …

Während man in Gelsenkirchen fälschlicherweise den (späteren 4-Minuten-)Meister feierte, bahnte sich in Hamburg der letzte Teil des Meisterschaftsdramas seinen Weg. Die Bayern warfen noch einmal alles nach vorne – und dann kam ihnen tief in der Nachspielzeit ein Lapsus des HSV-Keepers Schober (mit S04-Historie!) zu Hilfe. Dieser nahm einen Rückpass mit den Händen auf, anstelle ihn per Fuß auf die Tribüne zu jagen. Indirekter Freistoß im HSV-Strafraum, ca. 10 Meter vor dem Tor, halblinke Position. Die letzte Hoffnung der Bayern, doch noch Meister zu werden. Gefühlt ganz Fußball-Deutschland hielt für zwei Minuten den Atem an. Denn so lange dauerte es, bis der Freistoß endlich ausgeführt werden konnte. Kahn wühlte sich durch den Hamburger Strafraum, musste von Willy Sagnol gebändigt werden. Als dann Pattrick Andersson den Ball tatsächlich zum 1:1 durch eine Vielzahl an Beinen hindurch – wie konnte das eigentlich gehen? – ins kurze Eck schoss (Titelbild), war der Vulkan schon wieder in seiner Hälfte … und hatte dann … legendär .. die Eckfahne sehr sehr lieb 😉

Das Spiel wurde nicht mehr angepfiffen – der Meisterschaftsjubel der Bayern war grenzenlos. Die sich vier Minuten lang bereits als Meister feiernden Schalker versanken in einem Tränenmeer – und konsternierte Hamburger mussten frenetisch feiernden Bayern bei der Schalenübergabe zuschauen.

 Ein unfassbares Meisterschaftsfinale – heute vergisst man, dass es mehrere Akte hatte …

PS:  Zu den damaligen Protagonisten

Schalke wurde auch danach noch mehrmals Vize-Meister, war aber nie wieder so nahe am Titel. Aktuell als (Wieder-)Aufsteiger schon wieder in absoluter Abstiegsgefahr.

Unterhaching, das im Jahr zuvor noch der FCB-Meistermacher war, kam nie wieder zurück in die Bundesliga, pendelte dann einige Jahre zwischen der Dritten Liga und der 2. Bundesliga, dann zwischen 3. Liga und Regionalliga, aktuell Regionalligist mit besten Chancen, wieder aufzusteigen.

Sechzig und Cottbus stiegen in den Folgejahren ebenfalls aus der BL ab, ebenfalls aus der 2. BL.

Auch der BL-Dino HSV stieg 2018 in die 2. Liga ab. Die aktuell Saison ist die fünfte in Folge, in welcher er versucht, wieder aufzusteigen.

Der VfB ist aktueller Siebzehnter der BL-Tabelle, höchste Abstiegsgefahr, ein Punkt und ein Platz hinter S04.

Kaiserslautern ist nach viele Jahren in der Dritten Liga in der vergangenen Saison wieder in die 2. BL-Liga aufgestiegen.

Der FCB dagegen baut seinen Vorsprung als Rekordmeister Jahr für Jahr weiter aus – was wiederum viele auch nicht glücklich macht. Darunter erstaunlich viele eigene Fans … diese können sich zumindest in der laufenden Saison nicht über mangelnde Spannung beklagen. Vielleicht endet ja diese Saison ähnlich dramatisch wie die vor 22 Jahren – mit der 11. FCB-Meisterschaft in Folge natürlich 😉

Empfehlung: Ein schönes Video zu den 5 dramatischsten Deutschen Meisterschaften der Bayern – 1980 – 1972 – 1986 – 2000 – 2001:

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